Stigma: Gegenwind als Chance.
Es kann jeden von uns treffen: Ob Depression, Panik, Schizophrenie, posttraumatische Belastungsstörung oder Sucht – im Laufe seines Lebens leidet jeder zweite Schweizer an einer seelischen Erkrankung. Betroffene haben es schwer in unserer Gesellschaft, und selbst wenn sich das - auch medial beeinflusste - gesellschaftliche Bild langsam wandelt, werden Betroffene wie auch ihre Angehörigen vielerorts weiterhin unfair behandelt: In ihrer Anwesenheit wird abfällig über sie gesprochen, sie gelten als unberechenbar, Freunde brechen den Kontakt ab und Arbeitskollegen ziehen sich zurück.
Gefährliche Selbststigmatisierung
Laut WHO schafft Stigmatisierung seelischer Erkrankungen einen Teufelskreis von Ablehnung und Diskriminierung, der über Isolation, Arbeitsunfähigkeit, Substanzabhängigkeit, Obdachlosigkeit und eventuell auch Inhaftierung die Chancen auf Regeneration und Gesundung immer weiter verschlechtert. Komplizierend kann eine Selbststigmatisierung auftreten, indem sich Betroffene selbst identifizieren mit den gesellschaftlichen Vorstellungen darüber, was es bedeutet, psychisch erkrankt zu sein. Dies führt zu niedrigem Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, Schamgefühl und Versagensängsten, somit zu einer Einschränkung des Wohlbefindens und der Lebensqualität bis hin zur Suizidalität. Selbststigmatisierung kann derart in eine «zweite Erkrankung» münden.
Kampagnen bisher eher erfolglos
Anti-Stigma-Kampagnen kommen vielgestaltig daher, aber genau diese Vielgestaltigkeit ist ein Hinweis darauf, dass sie nicht richtig funktionieren. Anti-Stigma-Kampagnen, die aufklärerische mit kontaktbasierten Elementen kombinieren wie beim persönlichen Besuch eines psychisch Erkrankten im Schulunterricht, scheinen stigmatisierende Einstellung zu reduzieren. Viele Kampagnen bleiben aber mittelfristig wirkungslos oder verstärken sogar ungewollt die Stigmatisierung.
Professioneller Pessimismus als Gefahr
Besonders beunruhigend in diesem Zusammenhang sind Befunde, dass psychische Krankheitsverläufe und -prognosen besonders von denjenigen stigmatisierend dargestellt werden, die am besten ausgebildet sind bezüglich seelischer Erkrankungen. Pflegefachfrauen und -männer, Psychotherapeuten und Psychiater scheinen in einer Art professionellem Pessimismus die Chancen auf Gesundung psychisch Erkrankter systematisch zu unterschätzen. Häufig beklagen sich auch Angehörige, dass psychiatrische Fachkräfte ihnen mit für sie entwertenden Vorstellungen begegnen. So wird z.B. engagiertes Verhalten von Müttern leider häufig zu Unrecht als überfürsorglich und unabgegrenzt taxiert. Auch unausgesprochene Schuldzuweisungen verursachen bei Angehörigen zusätzliches Leid. Dies ist besonders schlimm, weil den psychiatrischen Profis seitens der Betroffenen wie auch der Angehörigen besonders viel Macht zugesprochen wird. Das Fachgebiet der Psychiatrie ist als einziges der Medizin nicht nur im Auftrag des Betroffenen, sondern auch im Auftrag der Gesellschaft tätig, beispielsweise wenn es darum geht, die Ausdrucksmöglichkeiten eines an einer akuten Manie Leidenden einzuschränken. Die strukturelle Stigmatisierung des psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereichs durch Unterfinanzierung innerhalb des Gesundheitsmarkts führt ebenfalls dazu, dass Patienten ungenügend umsorgt werden. Umso wichtiger erscheint es, dass Professionelle aktiv Stigmatisierung mit den Betroffenen besprechen und immer wieder darauf verweisen, dass Stigmatisierung unfair ist und dass nicht der Betroffene als Patient fehlerhaft ist, sondern von aussen als fehlerhaft gekennzeichnet wird.
Ein Zeichen der Hoffnung
Wenn also Aufklärung ohne persönliche Erfahrung Stigma nicht vermindert, Stigma aber die Möglichkeit persönlicher Erfahrung erschwert, was kann dann zur Überwindung der mit Stigmatisierung verbundenen Problematik beitragen? Diesbezüglich empfiehlt sich ein Blick über das Fachgebiet der Psychiatrie hinaus. Wie eingangs beschrieben wurden zu allen Zeiten nicht nur psychisch Erkrankte, sondern auch Fremde oder religiöse Minderheiten stigmatisiert. Aber zuweilen scheinen die Stigmatisierten keine zweite Erkrankung, sondern ungeahnte besondere Kräfte zu entwickeln. Das alte chinesische Sprichwort «Der Drache steigt nur gegen den Wind» ist heute anwendbar auf eine an Autismus leidende 16-jährige Schwedin, die dank ihres Eintretens gegen den menschengemachten Klimawandel und die Mobilisierung der Schuljugend weltweit im Herbst 2019 den alternativen Nobelpreis erhalten. Sie hat ihn bekommen gerade dafür, dass sich eine Einzelne nicht aufhalten lässt, auch nicht durch das Stigma einer psychischen Erkrankung. Sie ist damit nicht die Einzige; 1994 erhielt der seit seiner Studienzeit an Schizophrenie leidende Mathematiker John Forbes Nash den Nobelpreis und wurde darüber hinaus im Film «A Beautiful Mind» verewigt. Zwar hat sicher nicht jeder Einzelne die Kraft eines Drachen, aber Stigma allein ist nicht das ganze Schicksal und kann zuweilen auch als Gegenwind genutzt werden kann. Wenn ein John Nash vor einem Vierteljahrhundert und eine Greta Thunberg 2019 weltweit anerkannt werden, kann dies auch als Zeichen der Hoffnung für alle Stigmatisierten dienen.